Davos 25.05.2022, 10:20 Uhr

Lieferketten im Dauerstress: Kein Weg zurück für die Wirtschaft

Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos suchen Spitzenpolitiker nach Lösungen, um die global gestörten Lieferketten wieder in den Griff zu bekommen.
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck
(Quelle: Alexandros Michailidis/Shutterstock)
Wenn sich hochrangige Politiker berufen fühlen, zum Schutz der freien und offenen Weltmärkte aufzurufen, dann muss es um die Globalisierung schlecht stehen. Die wirtschaftliche und politische Elite diskutiert angesichts der Probleme mit Lieferungen aus Asien und wegen des Ukraine-Kriegs wieder über die Risiken zu großer Abhängigkeit von bestimmten Lieferanten. Erst waren Elektronikchips kaum zu bekommen. Derzeit schnellen die Energiepreise hoch, und schon bald droht eine Nahrungsmittelkrise.
Spitzenpolitiker wie Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck lassen auf dem Treffen des Weltwirtschaftsforums in Davos zwar keinen Zweifel daran, dass eine Abkehr von der Globalisierung keine Lösung der Probleme ist. Doch die Regeln müssten sich schon ändern, um widerstandsfähiger zu werden, sagt der Grünen-Politiker.
Die Invasion Russlands in der Ukraine hat die schon in den vergangenen Jahren offenkundigen Probleme rasant verschärft. Der deutschen Industrie fehlen Zulieferteile aus Osteuropa und das Eingreifen der Pekinger Führung in Sachen Corona-Bekämpfung wiegt schwer. Kein Wunder, dass sich die Unternehmen fragen, ob es so weitergehen kann.

Die Welt wird nie mehr die gleiche sein

"Wird die Welt künftig noch die gleiche sein für die Wirtschaft? Im Energiebereich auf keinen Fall", sagt Jean-Marc Ollagnier. Er ist der Europachef des Beratungsriesen Accenture. "Und auch bei Lebensmitteln - mit allem, was in den nächsten Monaten kommt - glaubt keiner daran, dass alles wieder so wird, wie es war." Durch den Krieg habe die europäische Wirtschaft mindestens ein Jahr verloren.
"Aus China rollt auf uns in den kommenden sechs bis neun Monaten ebenfalls ein massives Problem zu wegen der Lockdowns und fehlender Industrieproduktion", sagt Ollagnier.
"Um ehrlich zu sein ist die Situation in China mit den Lockdowns derzeit die größte Herausforderung, weil sie eine riesige Auswirkung auf den Transport hat", sagt auch Andrea Fuder, Einkaufschefin beim schwedischen Lkw- und Baumaschinenhersteller Volvo. "Und das in einem System, das superfragil ist, weswegen jede Störung zu uns durchkommt." In der Vergangenheit sei das immer durch Lagerbestände abgepuffert worden. Aber die sind im Moment niedrig. Auch bei Volvo fehlen Chips in der Produktion der Lastwagen.

„Historische Lieferkrise“

Die Lage ist für die Vorständin eine Art historische Lieferkrise. "Und ich hoffe wirklich, dass das nicht der neue Normalzustand ist", fügt die Managerin hinzu, die seit 30 Jahren in der Branche ist. In Deutschland baut das Unternehmen im niedersächsischen Hameln und nahe Trier Baumaschinen.
Im Moment sei die Lage noch einigermaßen ordentlich, sagt Volkswagen-Chef Herbert Diess im Gespräch mit dem US-Wirtschaftssender CNBC. Von Kundenseite sei die Nachfrage ordentlich, und viele Branchen in Deutschland hätten noch ein gut gefülltes Auftragsbuch. "Was mittelfristig passiert, da müssen wir wohl erstmal verdauen, was derzeit mit dem Krieg und mit den Lieferketten passiert", sagt aber auch der Chef von Europas größtem Autobauer. Die Probleme könnten aber auch den Umbau der Wirtschaft hin zu Digitalisierung und Klimawandel vorantreiben.
Also wo geht die Reise hin? Doch zu mehr Produktion vor Ort, hin zu weniger globalem Handel? Christina Raab, Accenture-Chefin für Deutschland, Österreich und die Schweiz, sieht in den Vorstandsetagen zumindest Überlegungen in diese Richtung. "In der Wirtschaft haben sich die Diskussionen rund um Lieferketten komplett gewandelt, weil niemand davon ausgeht, dass wir zu einer Art Vor-Corona-Zustand zurückkehren", sagt sie.

Regionale Lieferketten und Produktion als Option

"Mittelfristig sehen sich viele Firmen an, ob sie nicht regionale Lieferketten und eine regionale Produktion, die in Krisen womöglich stabiler sein können, nicht wenigstens als Option in der Hinterhand haben sollten", sagt die Expertin. "Um wettbewerbsfähig zu sein, muss dann natürlich viel in Automatisierung investiert werden." Das sei ohnehin angesichts knapper Arbeitskräfte nötig.
"Chefs von Unternehmen denken auch deshalb verstärkt über lokale Produktion für lokale Märkte nach, weil die Lieferketten der Container-Schifffahrt langsam sind, wie man heute sieht", sagt Raab. Unternehmen prüften außerdem, wie sich dem Rohstoffmangel begegnen lasse. "Die sogenannte Zirkularität setzt auch genau da an: Wenn Rohstoffe knapp sind, hält man sie besser durch Recycling und neue Nutzung im Kreislauf."
Volvo-Managerin Fuder sieht vor allem bei den Halbleitern die Konzentration der Branche in Asien als Problem. "Wir müssen lernen, monopolistische Zentralstrukturen für einige Schlüsseltechnologien zu verhindern."

Forderungen nach mehr Autarkie im Westen

Das sieht naturgemäß auch Intel-Chef Pat Gelsinger so. Die westlichen Volkswirtschaften müssten ihre Versorgung wieder selbst sichern können. Das gelte auch für die Chipbranche. Der US-Gigant stellt auch selbst in eigenen Fabriken Halbleiter her und lässt nicht wie viele aus der Branche nur in Asien fertigen. In Magdeburg will der Konzern mit staatlicher Förderung viele Milliarden in neue Werke stecken. Statt wie bisher überwiegend aus Asien sollen Chips künftig zur Hälfte aus westlichen Ländern kommen.
Nur um den Kirchturm herum Teile zu beziehen, sei aber nicht die Lösung, sagt Fuder. Das hätte auch unerwünschte Effekte auf Schwellen- und Entwicklungsländer. Europa habe ohnehin kaum Rohstoffe, sei also auf Zulieferungen angewiesen. Besser werden müsse die Wirtschaft unter anderem bei Recycling und der Weiternutzung von Materialien.




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