Strategie 26.07.2021, 09:00 Uhr

In diese Geschäftsfelder investiert Amazon

Jeff Bezos hat den Amazon-Chefposten vor Kurzem an Andy Jassy abgegeben. Nach seinem erfolgreichen Ausflug ins All wird der Firmengründer jedoch auch weiterhin die nächsten Schritte in der Entwicklung des Unternehmens maßgeblich beeinflussen. Ein Überblick.
(Quelle: shutterstock.com/Russ Vance)
Es ist jetzt knapp drei Wochen her, dass Jeff Bezos sich von seinem CEO-Posten bei Amazon verabschiedet hat und an die Spitze des Aufsichtsrats gewechselt ist. Nach 27 Jahren Aufbauarbeit mit dem Ergebnis, eines der größten, erfolgreichsten und mächtigsten Unternehmen der Welt geschaffen zu haben, konnte der Gründer des E-Commerce- und Cloud-Giganten seinen Flug ins All mit der ebenfalls von ihm gegründeten Weltraumfirma Blue Origin sicherlich doppelt genießen. Was nun unmittelbar vor dem Konzern liegt, ist auf den ersten Blick vielleicht für einige Beobachter klar, für andere jedoch auch ein großes Fragezeichen.
Hannes Detjen, Gründer der Amazon-Agentur Remazing, fasst im Folgenden zusammen, welchen bereits bestehenden und neuen Geschäftsfeldern Amazon sich in Zukunft voraussichtlich vermehrt widmen wird.

Bezos' Erbe lebt weiter

Trotz aller berechtigter Kritik an Amazons Geschäftspraktiken und der Schwachstellen, die der Konzern hat, bleibt aus rein betriebswirtschaftlicher Sicht zunächst erst einmal festzuhalten, dass Jeff Bezos eine der größten unternehmerischen Leistungen der jüngeren Geschichte vollbracht hat. Nach Bezos ist trotzdem nicht gleich ohne Bezos - und so wird es spannend zu sehen sein, inwiefern Nachfolger Andy Jassy als neuer Amazon-CEO unter Beobachtung des weiterhin größten Anteilseigners in der Rolle als Chef des Aufsichtsrats seine eigenen Akzente in Zukunft wird setzen können.
Jeff Bezos sagte einmal in einem Interview, dass er in seiner alltäglichen Arbeit bereits immer drei Jahre voraus denke. Die aktuellen Quartalszahlen seien deshalb normalerweise das Ergebnis der Entscheidungen, die er und sein Führungsstab 36 Monate zuvor getroffen haben.
 
So bleibt es nun abzuwarten, inwiefern Andy Jassy in den nächsten Jahren erst einmal noch "nur" das Erbe seines Vorgängers abarbeiten muss und wo die Zukunft von Amazon womöglich auch jenseits von E-Commerce und Cloud-Technologie liegen wird.
Als Online-Buchverkäufer 1994 gestartet, ist Amazon heute ein Konglomerat an service-basierten (Tochter-)Unternehmen und Geschäftsbereichen, das sich zunehmend in verschiedensten Branchen ausbreitet. Angetrieben von der hauseigenen "customer obsession" dringt Amazon dabei zunehmend umfassender in das Alltagsleben seiner B2C-Kunden vor. Aber auch aus B2B-Sicht wird der Konzern nicht nur mit Blick auf die eigene Cloud-Sparte Amazon Web Services (AWS) immer stärker.

Advertising ist das neue AWS

Amazons neuer CEO ist maßgeblich für den Erfolg von AWS verantwortlich. Seit 2006 war Andy Jassy Chef des Tochterunternehmens, das über die Jahre erheblich zu Amazons Profitabilität und Entwicklung als Tech-Unternehmen beigetragen hat. Nun findet Jassy in seiner neuen Rolle einen aufstrebenden Bereich vor, der gewissermaßen an die Entwicklung von AWS erinnert: Amazon Advertising.
 
Mit einem Umsatzwachstum von 77 Prozent im Vergleich zum Vorjahr wurde in 2020 bereits sehr deutlich, was für ein Potenzial in Amazons eigenen Werbemöglichkeiten liegt, die nun zunehmend weiterentwickelt und geöffnet werden. Der Konzern aus Seattle schließt dabei mit hohem Tempo zu anderen Tech-Giganten wie Google und Facebook auf, deren Marge hauptsächlich vom Geschäft mit Ad-Lösungen getrieben wird. Als zukunftsweisende Beispiele des Amazon Advertising seien hier Amazon DSP und Amazon Attribution genannt. Unter diesen Voraussetzungen wird Andy Jassy seinen bisherigen Erfolg mit AWS in den kommenden Jahren sicherlich nun in diesem Segment wiederholen wollen - was jedoch nicht bedeutet, dass AWS weniger wichtig werden wird.

Mehr Entertainment für die Kundenbindung

Eng verbunden mit Amazon Advertising wird in naher Zukunft vor allem der Weiterentwicklung der Entertainment-Sparte besondere Bedeutung zukommen. Die Integration der für 8,5 Milliarden US-Dollar erworbenen MGM Studios wird dabei richtungsweisend sein. Amazon bietet mit seinem Streaming-Angebot und der Filmdatenbank IMDb bereits Zugang zu zahlreichen Serien, Filmen, und Hintergrundinformationen.
Die Erweiterung des Prime-Video-Angebots sowie der eigenen Produktionskapazitäten verspricht vor allem in Kombination mit dem wachsenden Werbegeschäft jedoch ein noch größeres Umsatzpotenzial als zuvor. Aus dieser Sicht ist zum Beispiel auch der Kauf der Übertragungsrechte der beiden höchsten Ligen im französischen Fußball ein strategisch cleverer Schachzug. Gute Unterhaltung soll neue Kunden gewinnen und bestehende binden. Die wachsende Zahl an weltweiten Prime-Abonnements wird Lock-In-Effekte erzeugen, die zu weiteren, wachsenden Einnahmen führen.
 
Vor diesem Hintergrund darf man auch gespannt sein, ob der Konzern Spotify und Apple im boomenden Podcast-Markt noch einholen wird. Die Akquisitionen der Produktionsfirma Wondery und beliebter Podcasts wie "SmartLess" (für 80 Millionen US-Dollar!) lassen auf jeden Fall darauf schließen, dass man hier noch großes Potenzial sieht, das nicht kampflos der Konkurrenz überlassen werden soll. Die Rückholaktion von Jeff Blackburn untermauert dies: Nach kurzem Intermezzo als Startup-Investor soll der Amazon-Veteran als Senior Vice President die neu geordnete "Global Media & Entertainment"-Division leiten und für die Zukunft zielgerichtet aufstellen.

Gaming, Twitch und Social Commerce

Doch nicht nur eher traditionelle Unterhaltungsformate wie Audio oder Video, die on-demand angehört oder angeschaut werden können, stehen in den nächsten Jahren in Amazons Fokus. Mit der bereits vor einigen Jahren getätigten Übernahme von Twitch hat sich der Konzern frühzeitig im wachsenden Gaming-Markt einen wichtigen Player einverleibt. Von "Online Creators" betriebenes Livestreaming erfreut sich wachsender Beliebtheit auch weit über den Fokus auf Videospiel-Inhalte hinaus. Je nachdem, wo die Aufmerksamkeit von bestimmten Zielgruppen liegt, lässt sich mit Werbung gutes Geld verdienen - so auch im Falle von Twitch. Die Plattform wird für Amazons Advertising-Business in den kommenden Jahren noch wichtiger werden als sie bereits schon ist.

Aber auch der Videospiele-Markt als solches wird von Amazon vermehrt ins Visier genommen: Mit Amazon Luna will das Unternehmen seit letztem Oktober vor allem "casual gamers" ansprechen. Der Cloud-Gaming-Service funktioniert dabei wie Amazon Prime und eröffnet Nutzern Zugang zu einer Vielzahl an Online-Spielen. Bei einem globalen Umsatz, der größer ist als der der weltweiten Filmindustrie, wird die Gaming-Branche mit hoher Wahrscheinlichkeit noch mehr Aufmerksamkeit von Andy Jassy und seinem Führungsteam bekommen.

Mit Blick auf Amazons Streaming-Aktivitäten muss ebenso die wachsende Bedeutung von "Social Commerce" erwähnt werden. Was in Asien bereits der Normalfall ist, findet langsam aber sicher immer mehr Einzug im Kerngeschäft Amazons - Livestreams von Influencern, die Produkte für den Online-Kauf vorstellen. Anders als Konkurrent Walmart, der bereits Tests mit Shopping-Möglichkeiten innerhalb der Kurzvideo-App TikTok durchgeführt hat, versucht Amazon die Social-Elemente auf seiner Plattform einzubinden. Auch wenn der E-Commerce-Gigant hier im Vergleich aktuell noch etwas hinterher sein mag, darf man in den kommenden Jahren Schritt für Schritt die Einführung neuer Entwicklungen erwarten, die vor allem jüngere Shopper der Gen Z ansprechen sollten.

Von FBA zu mehr Seller Services

Mittlerweile wird ein Großteil der Umsätze auf dem Marktplatz von Sellern generiert, die die Vorzüge des "Fulfilment by Amazon" (FBA) nutzen. Kein Wunder also, dass Shop-Aufkäufer wie Thrasio noch viel ungehobenes Potenzial für den Verkauf auf dem Marketplace sehen und in den letzten anderthalb Jahren einen regelrechten Hype mit massiven Finanzierungsrunden ausgelöst haben.
Dass Amazon die Händler auf seiner Plattform jedoch teils mit harten Bandagen auf Linie trimmt, ist gemeinhin bekannt. Dennoch scheint Amazon sich zukünftig noch mehr auf seine Seller-Kunden fokussieren zu wollen.
Im Wettbewerb mit Shopify stand der Bezos-Konzern nach dem Scheitern von Amazon Webstore länger ohne Shopsystem-Lösung da, die Händlern noch mehr Möglichkeiten geben würde, ihr Online-Geschäft erfolgreich aufzubauen. Nach der Übernahme des australischen Tech-Unternehmens Selz könnte hier Bewegung reinkommen. Eine größere Fokussierung auf B2B-Services für den eigenen Marketplace sollte Amazon ermöglichen, auf den globalen E-Commerce-Markt noch umfassender Einfluss zu nehmen. Mehr Marken und Produkte auf der eigenen Plattform dürfte im Endeffekt noch mehr zufriedene Kunden bedeuten. Gepaart mit dem massiven Ausbau der eigenen Logistik in den letzten Jahren könnte Amazon die Wertschöpfungskette im Online-Handel vom Shopsystem über die Product Discovery und Advertising bis hin zur Lieferung zukünftig nahezu komplett dominieren. 

Food Delivery, Pharmacy und andere Dienstleistungen

Dass Amazon mit seinen kassenlosen "Amazon Go"-Supermärkten in den kommenden Jahren das Einkaufen von Lebensmitteln im stationären Einzelhandel signifikant verändern könnte, ist angesichts der Eröffnung von ersten Läden außerhalb der USA recht wahrscheinlich. Vor allem dank der potenziellen Lizensierung der eigenen Technologie könnte das Gesicht von Supermärkten in vielen Ländern verändert werden. Gleichwohl hat der Konzern aktuell bei der Lieferung von Lebensmitteln das Nachsehen und wird selber "disruptiert".
Quick-Commerce-Anbieter wie Gorillas und Flink liefern Einkäufe innerhalb von nur 10 Minuten - etwas, das Amazon aktuell nicht leisten kann. Eine Übernahme von letzterem Anbieter soll der E-Commerce-Riese bereits anvisiert haben. Da Amazon seinen Erfolg insbesondere auch gezielten Zukäufen zu verdanken hat, dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis auch der Bezos-Konzern Lebensmittel in nur wenigen Minuten an die Haustür liefern kann.

Ebenso dürfte der Online-Handel mit unter anderem verschreibungspflichtigen Medikamenten via Amazon Pharmacy eher früher als später nach dem Launch in den USA auch in anderen Ländern Realität werden. Großbritannien und Deutschland sind hier als wichtigste Märkte in Europa in der Pole Position. Ebenso arbeitet Amazon an Telemedizin-Lösungen und anderen Gesundheitsdienstleistungen.
Amazon meint es also ernst mit seinem Ziel, zum "Grundversorger" aufzusteigen, der seinen Kunden für jeglichen Alltagsbedarf die passenden Produkte und Services bietet. Finanzielle Dienstleistungen bietet das Unternehmen schon seit Längerem an, aber auch hier dürfte Andy Jassy sicherlich noch das ein oder andere unausgeschöpfte Potenzial entdecken, und womöglich auch in den Bereich Versicherungen vordringen. Ein eher simpler Service, der seit ein paar Monaten in den USA ebenfalls getestet wird: Möbelmontage. Auch hier zeigt sich, dass Amazon von einer rein transaktionalen Kundenbeziehung zunehmend hin zu einem Serviceangebot gelangen möchte, das Amazon bei Konsumenten noch mehr als den "Anbieter für alles" etabliert. Einmal Amazon, immer Amazon.
Auch fast drei Jahrzehnte nach Gründung ist der Konzern aus Seattle in Aufbruchstimmung wie eh und je. Nebst aller Umsatzrekorde, die Jeff Bezos auch dank der Corona-Pandemie zum Ende seiner Zeit als CEO feiern konnte, ist vor allem eines das eigentliche Vermächtnis, das Andy Jassy als echter "Amazonier" weiterhin hochhalten wird: Das "Day 1"-Mindset.
Mit seiner kolportierten Detailbesessenheit und Fokussierung auf Profitabilität, wird Jassy unter Aufsicht seines ehemaligen Chefs und guten Freundes Bezos die grundsätzlichen Ausrichtung des Unternehmens beibehalten und dabei sicherlich den ein oder anderen neuen Schwerpunkt selber setzen. Diskussionen um Digitalsteuern, die globale Mindeststeuer oder Wettbewerbsverfahren dürften deshalb voraussichtlich "nur" temporäre Störfeuer sein, die Amazon nicht von seinem Kurs abbringen werden.
 




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