Interview mit Frank Rehme 14.10.2024, 10:18 Uhr

"Wir verkaufen häufig in volle Schränke"

Frank Rehme macht sich als Handelsexperte ständig Gedanken über die Zukunft der Branche. Im Interview benennt er die Fehler vieler Händler, beschreibt aber auch die Chancen.

(Quelle: Shutterstock / AntonGrachev)
Weniger Publikum und immer mehr leere ­Läden: Die deutschen Innenstädte leiden und verändern sich. Doch es gibt Auswege aus dem ­Dilemma für den Handel. Telecom Handel sprach dazu mit Frank Rehme. Der Handelsexperte ist Gründer der Gmvteam GmbH, der Vitail GmbH und des Denkubators - Unternehmen, die Innovationen im Handel und Innenstädten entwickeln. ­Außerdem leitet er das Mittelstand-Digital Zentrum Handel des Bundeswirtschaftsministeriums.
Frank Rehme
Quelle: Frank Rehme
Wann waren Sie zuletzt in einer Stadt stationär einkaufen?
Frank Rehme: Ich bin gerade in unserem Office in Berlin, und da brauchte ich gestern Headsets. Die habe ich im Saturn gekauft. Eigentlich bin ich wegen meiner beruflichen Auslastung vom Profil her ein typischer Online-Shopper, aber ich will schon aus professionellem Interesse in die Läden gehen und schauen, was dort passiert und welche Trends es dort gibt.
Gibt es noch andere Gründe?
Rehme: Mit meiner Statur und Größe online Kleidung kaufen bekomme ich nicht hin, und ich habe auch einen ganz bestimmten Stil, den du im Web nicht immer bekommst. Aber ich bin auch immer neugierig, wie sich Innenstädte verändern, und deshalb viel unterwegs. Das betrifft jetzt nicht nur den Handel, sondern auch die Frage, ob es neue Besuchsanlässe gibt, die von den Städten geschaffen werden. Zum Beispiel, indem dort auf einmal alte Retailflächen in Kultur umgewidmet werden, oder die Mixed-Use-Konzepte, die jetzt immer mehr hochkommen.
Dass immer mehr Geschäfte eingehen, merke ich inzwischen selbst in München, aber neulich war ich in meiner Heimatstadt Recklinghausen und erschüttert, wie in dieser kleinen Großstadt ganze Einkaufsstraßen ausgestorben sind …
Rehme: Recklinghausen, Bottrop, Gelsenkirchen, Oberhausen, die leiden ja alle seit 25 Jahren am Centro-Angriff mit dem Riesen-Einkaufszentrum in Oberhausen. Das bietet zwei wichtige Vorteile: eine sehr große Auswahl an Läden und eine erstklassige Erreichbarkeit. Man ist von fast jedem Ort im Ruhrgebiet in einer halben Stunde über die ­Autobahn im Centro und findet dort Tausende Parkplätze. Diese Städte haben eigentlich vor 20 Jahren, also lange vor Internet und Corona, angefangen, den Abzug von Kaufkraft zu erleben, den andere jetzt bekommen.
Mega-Shoppingmall im Ruhrpott: das Centro Oberhausen
Quelle: Shutterstock / Ralf Liebhold
Hätten sie da nicht reagieren müssen?
Rehme: Sie haben weiter über Parkgebühren oder gemeinsame Ladenöffnungszeiten am Samstag diskutiert, als ob nichts gewesen wäre.
Spielt das Thema Parken eine so große Rolle?
Rehme: Im ländlichen Raum geht nichts ohne ­Auto. Aber in den urbanen Räumen, wie bei mir in Düsseldorf, sollten die Autos weitgehend raus aus der Stadt, beziehungsweise am Rand geparkt ­werden. Vergleichen Sie mal Bilder von der Rheinpromenade mit der Blechlawine vor 30 Jahren und von heute, wo da die Menschen flanieren und die Stadt beleben. Auch Maastricht in den Niederlanden zeigt, wie eine Stadt autofrei werden und dadurch blühen kann.
Also ist nicht nur das Internet am Ladensterben schuld?
Rehme: Das kann mir keiner erzählen. Im Zahlenspiegel des HDE kann man ganz klar nachlesen, dass wir 650 Milliarden Euro Umsatz im Einzelhandel haben, davon werden nur 85 Milliarden online erzielt. Klar gibt es große Unterschiede zwischen Branchen wie den Lebensmitteln mit wenig OnlineAnteil und etwa Mode sowie Elektronik, wo dieser hoch ist. Doch insgesamt wird die Mehrheit der Umsätze immer noch stationär erzielt, und die sind in den letzten Jahren auch fast immer gestiegen. Consumer Electronics ist aktuell halt schwierig, weil sich während Corona die Leute alles für zu Hause gekauft haben, was geht, und jetzt kommt diese Marktsättigung wie ein Boomerang zurück.
Warum dann dieser Leerstand in den Innenstädten?
Rehme: Da muss der Handel sich an seiner eigenen Nase packen. Wir verkaufen häufig in volle Schränke, wir haben gesättigte Märkte. Vieles von dem, was wir als Angebot haben, brauchen die Leute gar nicht mehr. Trotzdem verkaufen viele in Formaten aus den 90er-Jahren, als der Handel noch eine Antwort auf die Versorgungsfrage war, die so heute nicht mehr existiert. Kaufmännisch sind sie oft defizitär, weil sie in ihren eigenen Immobilien leben und diese ganzen Opportunitätskosten nicht mit einberechnen.
Wenn der Handel nicht mehr den Markt versorgen muss, welche Rolle spielt er dann?
Rehme: Er muss nicht nur das Angebot auf eine Frage sein, sondern zugleich diese Frage mitformulieren, das heißt, er muss den Leuten Inspirationen geben. Etwa indem er ihnen über Social Media vermittelt, warum sie überhaupt noch etwas kaufen sollen. Er muss Sichtbarkeit erzeugen mit digitalen Lösungen. Einfach mal eine halbe Seite in ­einem Anzeigenblatt zu buchen, funktioniert nicht mehr. Inspirator und Storyteller ist eine Rolle, die hat er nie gehabt und da tut er sich schwer. Er muss auch verstehen, wie auf einmal Visual Merchandising im Laden funktioniert, und vor allen Dingen, wie er selbst erst mal lernt, sich seine Zielgruppen zu definieren und daraus das entsprechende Sortiment zu gestalten.
Also muss er mehr reflektieren?
Rehme: Das sollte jeder Händler eigentlich alle 18 Monate mal machen, viele haben das aber noch nicht einmal zu Beginn ihres Geschäftes geleistet. Ich höre immer wieder ‚Bei mir kann jeder kaufen‘, aber wenn du dann eine solche Zielgruppendefinition hast, ist zwar jedes Sortiment das richtige, aber zugleich auch jedes Sortiment das falsche, weil es beliebig wird.
Was ergibt sich daraus für seine Rolle?
Rehme: Er sollte immer wieder durch die Anpassung seines Geschäftsmodells an die Bedürfnisse der Menschen in der Gegenwart reagieren. Wer das nicht macht, bei dem geht der Umsatz dann vorbei, und dann haben wir diese Leerstände in den Städten, obwohl sie eigentlich nicht sein müssten. Es gibt genug erfolgreiche Geschäftsmodelle, da werde ich auch in meinem Vortrag auf der Communicate! einige nennen. Diese zeigen, dass die Händler auf einmal ganz andere Probleme bekommen: ihr Wachstum zu managen, weil sie nicht das richtige Personal kriegen oder die Lieferketten nicht mehr hergeben.
Es gibt aber doch in den Innenstädten Faktoren, die den Leerstand fördern, die der einzelne Händler kaum beeinflussen kann …
Rehme: Wenn die Leerstände einmal wie geschildert anfangen, passiert natürlich beim Besucher etwas im Kopf: Der sagt, da brauche ich gar nicht mehr hinzugehen. Deshalb müssen wir in den Innenstädten alternative Besuchsanlässe schaffen, wenn der Handel einfach nicht mehr der Magnet ist. Das sind solche Themen wie Kultur oder auch Räume zu schaffen für die sogenannte absichtslose Begegnung. Die Brutto-Anziehungskraft einer Stadt ist die mit Handel und die Netto-Anziehungskraft ist die ohne Handel, das sieht man immer am Sonntag, wenn Leute trotzdem in der Stadt Zeit verbringen. Da gibt es Städte, die das wunderbar geschafft haben, alternative Besuchsanlässe zu schaffen, und die bekommen auch wieder die Laufkundschaft, die man als Handel braucht.
Galeria-Warenhaus
Die geschlossenen Häuser von Galeria Kaufhof und Karstadt sind auffällige Symbole für die Krise der Innenstädte
Quelle: Shutterstock / radowitz
Haben Sie ein Beispiel?
Rehme: Ein Beispiel ist Kevelaer am Niederrhein. Das ist auch ein Wallfahrtsort, da sind auch am Wochenende richtig viele Leute, und das belebt auch den Handel mit. Die Orte müssen ihr Wacken finden: Wacken kannte vor 30 Jahren auch kein Mensch, mittlerweile ist das die Heavy-Metal-Capital der Welt. Wir denken immer nur an die Zeit des Festivals, aber die Fans pilgern dahin auch außerhalb des Festivals. Die holen sich eine E-Mail-Adresse mit @wacken.de. Die Stadtverwaltung spielt da mit und gibt ihre Domain frei für die Heavy-Metal-Fans, das ist schon ganz wild.
Hilft es, wenn sich Einzelhändler zusammentun, um den Trend zur Verödung aufzuhalten?
Rehme: Grundsätzlich sehe ich noch zu viel Einzelkämpfertum, helfen kann ein guter City Manager, der gemeinsame Ziele formuliert und das Ganze zusammenhält. Er sollte nicht nur versuchen, partikulare Ziele in irgendeinem übergeordneten Ziel unterzubringen, was nie klappen wird. Der Handel sollte auch lernen, eine Innenstadt als Einkaufszentrum zu verstehen. Wir haben eingangs über das Centro Oberhausen gesprochen, da wird vom Center Management vorgegeben, wie lange die Läden aufhaben, welche Aktionen gefahren werden, bis zur Frage, wer welchen Kundenstopper nach draußen stellen kann. Da gibt es klare Regeln, und genau so muss eine Innenstadt auch gedacht werden. Es kann doch nicht sein, dass irgendwo verkaufsoffener Sonntag ist und dann ist ein Drittel der Händler nicht da.
Warum verzichten dann immer noch viele Städte auf einen City Manager?
Rehme: Das war keine klassische Verwaltungsaufgabe der Vergangenheit, da tun sich viele schwer, so etwas aufzubauen. Wir sehen an Städten wie Langenfeld zwischen Köln und Düsseldorf, die seit fast 20 Jahren City Manager haben, dass dort Leerstände kein Thema sind, da die sich schon frühzeitig darum kümmern, die Fühler auszustrecken, wenn sie hören, dass ein Laden schließt.
Wenn wir an die Einkaufszentren denken, geht es in vielen Fällen aber momentan doch trotz eines einheitlichen Managements nicht gut?
Rehme: Ja, die bekommen gerade nach den klassischen Warenhäusern die Probleme. Was alle durchgängig haben, ist das Zweite-Etage-Problem, da hat man auch nicht frühzeitig dran gedacht, wie massiv sich das auswirkt. Da ist zum Beispiel die Mall of Berlin am Potsdamer Platz, die vor sechs Jahren eröffnet wurde, mit sehr viel Leerstand im oberen Bereich.
Gibt es für dieses Phänomen der zweiten Etagen eine Lösung?
Rehme: Eine Umnutzung ist sinnvoll, man setzt da oben Ärzte, Verwaltung oder andere Frequenzbringer rein, um überhaupt noch die Mall an Leben zu halten. Dazu muss man aber mit den Immobilieneigentümern reden, gerade bei diesen Malls hast du immer institutionelle Anleger, die die Besitzer sind. Und da geht es nicht darum, ob die vermietet sind oder nicht, sondern welches Potenzial an Miete das Objekt hätte. Wenn er nun weniger Miete verlangt, geht der Immobilienwert runter, und das kann sich so ein Zahnarztfonds aus Kanada nicht erlauben. Der lässt es dann lieber leer stehen.
Als ob die Probleme nicht genug wären, bleibt dem Handel auch noch der Fachkräftemangel …
Rehme: Und der wird nicht besser, besonders im Lebensmittelbereich. Da machen schon erste Bedientheken zu, weil es nicht genug Fleischer gibt, andere schließen den ganzen Laden ein paar Stunden früher. Das ist Wahnsinn, denn die Mieten und die anderen Kosten laufen trotzdem weiter.
Ist die Arbeit im Handel so unattraktiv?
Rehme: Das muss man von mehreren Seiten angehen: Da ist sicher die Führungskultur gefragt, dazu flexible Arbeitszeiten und Einsätze. Leider haben aber auch die Endkunden in letzter Zeit eine immer kürzere Zündschnur entwickelt und gehen mit dem Personal unfreundlich um, das dann das Gefühl mangelnder Wertschätzung hat.
Dazu kommt noch die schwierige Nachfolge, gerade auch in der Mobilfunkbranche, die ihre Gründungswelle vor rund 25 Jahren hatte …
Rehme: Auch fehlende Nachfolger tragen zum Leerstand bei. Da gibt es eine interessante Initiative von ‚Die Stadtretter‘, in der sich mittlerweile über 1.300 Städte zusammengetan haben, die an gemeinsamen Themen arbeiten. Sie machen gerade in Großenhain bei Dresden ein Projekt ‚Freundliche Übernahme‘, bei dem sie hingehen und gucken, welche Läden in den nächsten Jahren schließen könnten, weil der Inhaber in Rente geht. Sie versuchen dann frühzeitig einen Nachfolger zu finden, den einzuarbeiten und an dem Geschäftsmodell zu arbeiten, das dann vielleicht wieder attraktiver wird.
Kann Automatisierung, auch durch Künstliche Intelligenz, eine Lösung für die Probleme sein?
Rehme: Da ist ein Riesenpotenzial, ich leite auch das Mittelstand-Digital Zentrum vom Bundeswirtschaftsministerium. Da geht es darum, Digitalisierung in den Mittelstand zu bringen. Die ganzen Backstore-Prozesse, solche Sachen wie die administrativen Prozesse im Bereich der Buchhaltung, können durch Automatisierung stark verbessert werden. Man muss sie nur nutzen. Auch Social Media und meinen Online-Shop kann ich mit KI automatisieren. Dann habe ich auch wieder mehr Zeit für den Kunden.
Dafür bekommen viele Online-Shops gerade starke Konkurrenz durch neue Plattformen wie beispielsweise Temu und Shein …
Rehme: Dem ganzen unfairen Handel sollte ein Riegel vorgeschoben werden. Das sind Produkte, die von der Qualität her oft nicht unseren Standards und den Sicherheitsregeln entsprechen, aber trotzdem gekauft werden, und das vielfach an der Steuer vorbei. Es ist auch wenig nachhaltig, die Sachen durch die Welt zu fliegen. Das ist ein komplett anderes Modell, als wir das bisher überhaupt gewohnt waren.




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